Sonntag, 18. Juni 2006

Das Seminar

Im Sommersemester ’05 beschäftigte ich mich im Rahmen eines Forschungssemesters mit dem Themenkomplex Nicht-Lineares Lesen in Büchern. Im anschließenden Wintersemester ’05/’06 brachte ich das Thema im Rahmen eines Fachseminars Typografie für Fortgeschrittene in den Unterricht ein. Das Seminar wurde von Studierenden der Fachrichtungen Kommunikationsdesign, Industrial Design und Freie Kunst belegt.

Wir beschäftigten uns dort mit verschiedenen Aspekten, untersuchten Beispiele bereits existierender Bücher auf ihre Linearität bzw. Nicht-Linearität. Um entsprechendes, also nicht-lineares Ausgangsmaterial zu haben, begannen wir, gemeinsam eine nicht-lineare Geschichte zu schreiben.

Die TeilnehmerInnen

  • Manuela Büchting
  • Cesalie von Dungern
  • Anemone Färber
  • Florian Hardwig
  • Tobias Maring
  • Maren Meßmer
  • Franziska Nast
  • Yannick Rudolph
  • Nina Schütte
  • Ulrike Stoltz
  • Giselind von Wurmb

Gemeinsam eine Geschichte schreiben

Maren Meßmer gab als gemeinsamen Ausgangspunkt den Anfang eines Grimmschen Märchens vor. Es gab weiter keine mündlichen Absprachen oder inhaltlichen Vorgaben.

Wir nutzten zunächst die Form des Weblogs, um den Überblick zu behalten, um das gemeinsame Weiterschreiben für uns möglichst einfach und übersichtlich zu gestalten und damit jeder von uns zu jeder Zeit daran weiterschreiben konnte.

Grundsätzlich gingen wir so vor, dass jede/r die Möglichkeit hatte, von jedem Punkt der Geschichte aus weiterzuschreiben. Ohne weitere Diskussion ergab es sich, dass die kompletten Einträge als geschlossene Punkte gesehen und nicht in sich noch weiter zerstückelt wurden (was theoretisch jedoch auch möglich gewesen wäre).

Man konnte durchaus zu einem weiter fortgeschrittenen Zeitpunkt bereits länger zurückliegende Absätze aufgreifen und weiterentwickeln. So entstanden im Laufe der Zeit verschiedene Erzählstränge, die sich unterschiedlich verzweigten.

Die Orientierung beim Schreiben

Wie macht man deutlich, welchen Absatz man fortsetzen will? Zur internen Orientierung verwendete Florian Hardwig, der den Weblog verwaltete, zunächst Ziffern. Dabei war die 1 der Ausgangspunkt; 1.1 bzw. 1.2 oder 1.3 und 1.4 standen für die ersten vier Verzweigungen. Dementsprechend knüpfte 1.1.1 an den ersten Strang an, 1.2.1 an den zweiten, usw. Jede weitere Ziffer stand für die nächste «Runde» bzw. «Generation» von Abschnitt.

Wir bemerkten bald selbst, dass diese Darstellung zwar eindeutig und übersichtlich war, die Länge der Ziffernfolgen jedoch ab einer bestimmten Länge durchaus unübersichtlich wurde.

Interne, undeklarierte «Verlinkung»

Unabhängig von der Verknüpfung durch die Ziffern war bald klar, dass man auch durch die Inhalte selbst die verschiedenen Erzählstränge miteinander verknüpfen konnte: so taucht etwas Grünes oder etwas Rotes in verschiedenen der Geschichten auf und manifestiert sich dort in unterschiedlichster Weise. Die Schreibenden inspirieren sich gegenseitig.

«Schikanen» einbauen

Erschwerend kam hinzu, dass irgendwann jemand von uns anfing, verschiedene Stränge, die so aussahen, als wären sie schon recht weit auseinander gelaufen, durch eine entsprechend phantasievoll geschriebene Fortsetzung doch wieder miteinander zu verknüpfen. Das drohte die Orientierung anhand der Ziffern zu sprengen; es wurden nun Buchstaben eingeführt, was zwar logisch war, aber die Sache nicht unbedingt handhabbarer machte.

Die Darstellung

Der große Enthusiasmus, mit dem wir alle an das Schreiben der Geschichte herangegangen waren, schien sich im nicht-linearen Dickicht zu verlieren und verlagerte sich folgerichtig auf die Frage: wie könnten wir die Struktur noch anders als durch Ziffern darstellen?

Natürlich stand dahinter auch die Frage: lässt sich diese Geschichte in eine Buchform bringen und wie könnte das aussehen?

Ebenso wichtig war die Visualisierung als solche, und es entstanden unterschiedliche Varianten von Diagrammen und verschiedenste Idee für dreidimensionale Objekte. Dabei war es faszinierend zu beobachten, wie häufig eine Idee die nächste geradezu hervorrief und inspirierte: auch dies eine Variante des Themas Nicht-Linearität.

Die Ergebnisse zeigten wir in einer Ausstellung zum Rundgang 2006.

Den Überblick behalten

In der Darstellungsphase kam die Frage nach der Distanz ins Blickfeld:
Je weiter ich entfernt bin, desto klarer ist der Überblick, desto weniger weiß ich, was sich hinter den einzelnen «Knoten» verbirgt.
Je näher ich dran bin, je mehr ich mich auf die Geschichte selbst einlasse, um so weniger Überblick habe ich, um so stärker verliere ich mich im Gestrüpp.

Einige Fragen

Soll die Darstellung der Struktur unbedingt der Chronologie des Schreibens folgen?
Ist die Reihenfolge des Aufschreibens notwendigerweise auch die Reihenfolge der Ereignisse in der Geschichte?
Wieviel Stringenz braucht eine Geschichte?
Wieviel muss davon ausgesprochen werden?
Wieviel kann angedeutet sein?
Wieviel kann man auch weglassen im Vertrauen darauf, dass die LeserInnen ja mitdenken?
Sind die Bezugspunkte und Verzweigungen in einer Geschichte nur die, die wir bewusst setzen?
Oder entwickelt nicht jede Geschichte beim Schreiben ihre eigene Dynamik?
Wie lassen sich interne «Links», die sozusagen zusätzlich zu den von uns absichtlich gesetzten Abzweigungen dazu kommen, in die Visualisierung der Struktur integrieren? Müssen alle Ebenen von Nicht-Linearität, die in der Geschichte enthalten sind, in der Visualisierung ihrer Struktur mit abgebildet werden?
Oder ist es zugunsten des Überblicks und der Klarheit nicht eher sinnvoll, sich auf einen oder wenige Aspekte zu beschränken?

Das Ergebnis

Das Semester erwies sich als viel zu kurz, um in unserer nicht-linearen Vorgehensweise zu einem in gewisser Weise abgerundeten Ende zu kommen. Es entstanden Bücher, Grafiken, Karten und Skulpturen. Neben den ausgearbeiteten Endprodukten sind die Skizzen mindestens ebenso interessant, geben sie doch einen Einblick in die jeweiligen Denkprozess.
Ich freue mich sehr, dass wirklich alle TeilnehmerInnen unabhängig von regelmäßigen Treffen an ihrer je eigenen Visualisierungs-Idee weitergearbeitet haben, so dass wir nun zum Ende des Sommersemesters 2006 die Resultate unserer Arbeit in einer kleinen Ausstellung im Rahmen des Rundgangs präsentieren konnten.

Danke

Ich danke allen Seminar-TeilnehmerInnen für ihre Begeisterung, mit der sie sich auf das Thema einließen, und für ihre Gedanken, Überlegungen und konkret umgesetzten Beiträge. Sie haben das Seminar für mich zu einer der spannendsten Erfahrungen meiner bisherigen Unterrichtstätigkeit werden lassen.

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Nonlineare Texte

Typoseminar HBK Braunschweig

Fotos von der Ausstellung

Diese Flickr-Tafel zeigt Bilder aus dem Set Contrafumo.

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Rundgang Juli 2006.
Fotos © Ulrike Stoltz, Florian Hardwig

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